Die Frage „Kann ein Pferd seinen Menschen mögen?“ begegnet mir häufig — in Gesprächen mit Pferdehaltenden, in Kursen und immer wieder in meinen Recherchen. Auf den ersten Blick klingt sie einfach. Bei genauerem Hinsehen führt sie aber direkt in die spannende Schnittstelle von Verhaltensforschung, Emotionsbiologie und Alltagspraxis.
Kurz zusammengefasst: Ja — Pferde können klare, individuelle Präferenzen für Menschen entwickeln. Diese Präferenzen ähneln dem, was wir Menschen „Mögen“ nennen, sind aber in ihrer Natur tiergerecht zu beschreiben: als Bindung, emotional bevorzugtes soziales Verhalten und ein Gefühl von Sicherheit in Gegenwart einer bestimmten Person.
Im Folgenden erkläre ich erst die Theorie (wie Forscherinnen und Forscher Bindung und soziales Verhalten beim Pferd beschreiben) und anschließend sehr praxisnah, worauf du achten kannst und wie du die Beziehung zu deinem Pferd fördern kannst.
Was sagen Forschung und Verhaltensbiologie?
Pferde sind soziale, differenzierte Tiere
Pferde leben in Herden mit ausgeprägten sozialen Strukturen. Innerhalb dieser Gruppen entwickeln sie individuelle Präferenzen: Sie unterscheiden Artgenossen, wählen Vertraute, suchen gezielt Nähe und profitieren sozial von bestimmten Partnern. Diese Grundmuster übertragen sich auch auf den Umgang mit Menschen, besonders dann, wenn Menschen über längere Zeit zuverlässig, vorhersagbar und fein in ihrer Kommunikation sind.
Wahrnehmung und Gedächtnis beim Pferd
Forschungsergebnisse (allgemein gefasst) zeigen, dass Pferde Menschen wiedererkennen können, anhand von Gesichtern, Stimmen und auch typischer Körpersprache. Sie unterscheiden zwischen freundlicher und feindseliger Körpersprache und speichern Erfahrungen emotional ab. Das heißt: positive, sichere Begegnungen werden erinnert und beeinflussen zukünftiges Verhalten.
Bindung: nicht „Liebe“ wie beim Menschen — aber nah dran!
Begriffe wie „Liebe“ oder „Mögen“ sind menschliche Konzepte. Pferde denken nicht in abstrakten Begriffen, sondern erleben Situationen direkt. Dennoch existiert ein eng verwandtes Phänomen: Bindungssicherheit. Ein Pferd, das aufgrund vieler positiver Erfahrungen einen Menschen als verlässlich erlebt, zeigt deutlich andere Verhaltensweisen als gegenüber Unbekannten oder unzuverlässigen Personen. Diese Präferenz ist emotional geprägt, denn sie bedeutet Sicherheit, Zugehörigkeit und verlässliche Orientierung.
Emotion und Verhalten: Warum sich Präferenz zeigt
Wenn Pferde einem Menschen gegenüber entspannen, freiwillig seine Nähe suchen oder fein auf seine Signale reagieren, ist das ein Ausdruck von erlerntem Vertrauen: Das Pferd hat über wiederholte, positive Begegnungen gelernt, dass dieser Mensch berechenbar ist und Sicherheit vermittelt. Das ist nicht nur Verhaltenskonformität, das ist vor allem eine emotionale Präferenz.
Wie du beobachtest, verstehst und Beziehung aufbaust
Im Folgenden findest du konkrete, direkt umsetzbare Hinweise, Beobachtungsfragen und Übungen. Sie basieren auf dem oben genannten theoretischen Verständnis und sind darauf ausgelegt, Beziehungskompetenz zu fördern, nicht um zu manipulieren oder zu befehlen.
A. Drei Schlüsselsignale: Was du beobachten solltest
Diese drei Indikatoren zeigen besonders klar, ob dein Pferd positive Präferenzen für dich entwickelt hat.
1) Das Pferd sucht freiwillig deine Nähe (Annäherungsverhalten)
Was es bedeutet (theoretisch): Sozialsuchendes Verhalten ist ein sicheres Zeichen dafür, dass das Pferd positive Emotionen mit deiner Person verknüpft. In freier Wildbahn suchen Pferde gezielt bestimmte Individuen auf — gleiche Dynamik lässt sich im Umgang mit Menschen beobachten.
Was du beobachten kannst:
- Kommt dein Pferd zu dir, wenn du auf die Koppel oder in die Box kommst — ohne zu rufen?
- Bleibt es in deiner Nähe, auch wenn du nichts tust?
Übung (Beobachtungstest):
- Geh auf die Koppel/Box, bleib 2 Minuten still stehen und schau, ob das Pferd von selbst nähert. Notiere Häufigkeit über mehrere Tage.
2) Entspannte Körperhaltung in deiner Gegenwart
Was es bedeutet (theoretisch): Entspannungssignale (abgesenkter Kopf, weiches Maul, halbgeschlossene Augen, ruhige Atmung) sind physiologische Indikatoren eines parasympathischen Zustands — also echte Entspannung. Pferde zeigen diese Zustände eher in der Nähe von Vertrauten.Was du beobachten kannst:
- Döst dein Pferd in deiner Nähe?
- Senkt es den Kopf, schnaubt es sanft, kaut oder schließt es die Augen?
Übung (Entspannungs-Check):
- Verbringe 5 Minuten still in der Nähe deines Pferdes, ohne es zu berühren. Notiere, ob und wann erste Entspannungssignale sichtbar werden. Kleine Fortschritte über Wochen dokumentieren.
3) Feine Reaktionen & freiwillige Kooperation
Was es bedeutet (theoretisch): Soziales Kognitionsverhalten — das Lesen von Blick, Körperausrichtung und subtilen Bewegungen — ist nur möglich, wenn das Pferd nicht im Stressmodus ist. Feine Reaktionen zeigen also Vertrauen und Bereitschaft zur Kooperation.Was du beobachten kannst:
- Reagiert dein Pferd auf Blickrichtung oder kleine Körperbewegungen?
- Bleibt es aufmerksam bei dir, ohne dass du es ständig auffordern musst?
Übung (Dialog-Übung):
- Übe kurze, subtile Signale (z. B. Blick- oder Schulterwendung) und belohne die kleinste richtige Reaktion. Ziel: freiwilliger Dialog, nicht erzwungene Leistung.
B. Konkrete Schritte zur Beziehungsarbeit
1. Beobachten statt sofort handeln
Nimm dir 5–10 Minuten, um dein Pferd einfach zu beobachten (kein Training, kein Abholen, kein Equipment). Notiere 3 Dinge, die du siehst.
- Frag dich: Sucht es Nähe? Wirkt es entspannt? Reagiert es fein?
2. Wahlfreiheit geben
Biete Situationen an, in denen dein Pferd sich entscheiden darf (z. B. ob es mitkommt zum Putzplatz oder lieber bleibt). Wahlfreiheit stärkt Vertrauen.
- Beispiel: Beim Aufbräumen der Box: Lasse es wählen, ob es bei dir bleibt oder kurz frisst — gib Orientierung, aber keine Zwangsentscheidung.
3. Erfolgserlebnisse und kleine „Gewinner“-Sequenzen
Beginne jede Übung mit etwas, das dein Pferd sicher kann. Beende sie mit einem Erfolg.
- So verknüpft das Pferd Aktivität und positive Erfahrung mit deiner Person.
4. Sicherheit & Vorhersagbarkeit schaffen
Sei konsequent in Ritualen (z. B. Begrüßung, Knotenhalfter anlegen, Fütterungsritual). Vorhersagbare Abläufe reduzieren Unsicherheit.
- Achte auf klare, konsistente Körpersignale — Pferde reagieren stärker auf die Kongruenz von Körper, Stimme und Energie.
5. Ansprechbarkeit statt „Anweisung“
Arbeite an deiner eigenen Präsenz: Atmung, Haltung, Blick. Je klarer und ruhiger du bist, desto leichter kann dein Pferd sich orientieren.
- Übung: 10 Sekunden Atemfokus vor dem Annähern — beobachte, ob das Pferd ruhiger wird.
C. Häufige Fragen / Troubleshooting
Q: Bedeutet Nähen suchen immer, dass mein Pferd mich „mag“?
A: Nicht automatisch. Annäherung ist ein starkes Indiz für positive Präferenzen, aber Kontext zählt: Ist Futter oder andere Belohnung vorhergehender Auslöser? Beobachte freiwillige, nicht durch Futter gelockte Annäherung.
Q: Mein Pferd zeigt keine Entspannung — was tun?
A: Prüfe Umfeld, Gesundheit, Schmerzen, tägliche Routine. Beginne mit sehr kleinen, sicheren Aufgaben und biete Pausen. Baue Ritualisierung und vorhersehbare Abläufe auf.
Q: Mein Pferd ist feinfühlig, reagiert aber nicht freiwillig — ist es einfach „empfindlich“?
A: Feinfühligkeit ist eine Stärke, aber nur wirksam, wenn das Pferd sich sicher fühlt. Arbeite an Sicherheit, kleinen Erfolgserlebnissen und der Reduktion von Überforderung.
Ein kurzes Plädoyer gegen Simplifizierung: Achtung vor Vermenschlichung
Es ist verlockend, Pferden menschliche Gefühle zuzuschreiben — und das kann ehrlich und hilfreich sein, wenn es uns empathisch macht. Wissenschaftlich korrekt ist jedoch: Pferde erleben in Situationen und verknüpfen Erlebtes emotional. „Mögen“ ist ein menschlicher Begriff; die passende tiergerechte Übersetzung lautet: emotionale Präferenz, Sicherheit & Bindung. Diese Zustände sind wissenschaftlich beobachtbar und praktisch relevant und bilden die Grundlage für vertrauensvollen Umgang und effektives Lernen.
Was heißt das für dich im Alltag?
Wenn dein Pferd freiwillig Nähe sucht, in deiner Gegenwart entspannt und fein auf deine Signale reagiert, dann ist das ein starkes Zeichen: Es bevorzugt dich. Vielleicht ist das nicht „Mögen“ im vollmenschlichen Sinn aber es ist das, was dem in der Pferdewelt am nächsten kommt: eine bindungsähnliche Präferenz, die auf Sicherheit, Vorhersagbarkeit und respektvoller Kommunikation beruht.
Beziehungsarbeit ist kein kurzfristiges Projekt — sie ist tägliche Praxis: Beobachten, Wahlmöglichkeiten geben, klare Kommunikation, kleine Erfolge, Pausen und echte Präsenz. Wenn du das beherzigst, wirst du die Veränderung spüren, oft in stillen, besonderen Momenten, in denen dein Pferd sich entscheidet, freiwillig bei dir zu bleiben.
Hier wird weiter gelernt:
In meinem Buch "Mein Pferd kann's!" findest du neben der Theorie kreative Aufgaben, um das Lernen deines Pferdes erfolgreich zu fördern.

Diesen Beitrag fand ich sehr, sehr interessant und es bestärkt mich auf meinem Weg mit Lilly. Ich versuche ihr auch so viele Wahlmöglichkeiten zu geben wie möglich. Manchmal setze ich mich auch mit auf die Weide und genieße die Nähe. Manchmal kommt sie und beschnuppert meinem Kopf und grast neben mir. Es gibt nichts schöneres für mich.
Liebe Nina, danke für Dein Feedback. Und wie schön, dass Deine Lilly so oft mit entscheiden kann 🙂 Diese gemeinsame Zeit, die du beschreibst, ist so wertvoll!
Für mich ist dieser Artikel sehr interessant. Vieles wusste ich noch nicht so. Mich würde nur mal interessieren, ob es da einen Unterschied zwischen Stuten und Wallachen gibt. Lg Annett aus dem Allgäu
Liebe Annett, bei Stuten bemerkt man – durch ihre hormonellen Schwankungen – oft mehr eine "Tagesform", die man berücksichtigen darf. LG Vivian
Hallo Vivian,
Danke für deinen sehr lesenswerten Beitrag. Auch ich habe schon diese oder jene Erfahrung gemacht, welche du in diesem Beitrag beschreibst. Ich besitze zwar kein eigenes Pferd, aber reite und kümmere mich um nur speziell eines aus dem Stall. Bei mir steht das Reiten an zweiter Stelle. Viel mehr kümmere ich mich um Kommunikationsarbeit, respektvollen tiergerechten Umgang und Vertrauensarbeit. Dabei habe ich schon so einiges ausprobiert bzw. arbeite mit anderen Methoden, wie z.B. gebisslosem Reiten, Reiten ohne Sattel, Bodenarbeit, Vertrauensarbeit nach Pat Parelli oder Monty Roberts, Beobachtung ohne Einfordern etc.
Ich bin sehr froh , dass es solche Menschen wie u.a. dich gibt, die das Tier (Pferd) nicht als Nutztier sehen, sondern als ein kommunizierendes Wesen mit Seele. Das inspiriert mich immer wieder.
Liebe Mandy, Vielen Dank für dein Feedback. 🥰🙏
Es ist so wichtig dass immer mehr Pferdemenschen so denken 😊🐴
Liebe Vivian, danke, dass du die Antwort dieser Frage in einzelne Schritte zerlegst und Übungsbeispiele nennst sowie zur intensiven Beobachtung anleitest.
Die Verknüpfung mit wissenschaftlichem Hintergrund ist ebenfalls sehr hilfreich um eine Vermenschlichung und damit zu große Erwartungen zu dämpfen.
Mein Pferd kam auf der Wiese nicht immer, hat meine Kommen aber oft mit "Blubbern" begrüßt. Wenn es das Fressen unterbrach und kam, hat es mir meist sein Hinterteil zugewandt und ist rückwärts vorsichtig näher direkt an mich heran gekommen, damit ich es hinten kraulen kann. Ich stand dafür dann meist seitlich. Oft hat es dann den Kopf und Hals zu mir gewendet und mich ebenfalls "beknabbert" aber nur mit den Lippen – eher "benuschelt"! Ich habe mich immer gefragt, woher weiß er, dass die Zähne bei mir nicht angebracht sind?
Danke Birgit, für Deinen Kommentar und Dein Feedback. Dies zeigt so schön, wie sensibel und "zärtlich" sie uns gegenüber sein können 🙂